X. Gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West

Die Unterschiede zwischen Ost und West, zwischen strukturschwachen und Wachstumsregionen in Deutschland insgesamt werden größer statt kleiner. Das neoliberale Gesellschaftsmodell führt zu wachsender Ungleichheit zwischen den Regionen. Die Bundesregierung befördert diese durch ihre ungerechte Wirtschafts- und Steuerpolitik.

Seit Jahren stagniert die Wirtschaftskraft im Osten bei nur 72 Prozent des Westniveaus. Die ostdeutsche Wirtschaftsstruktur ist kleinteilig und es gibt keine großen Unternehmenszentralen. Bis 2030 wird ein Bevölkerungsrückgang von sieben Prozent erwartet. Die Armutsgefährdung von Rentnerinnen und Rentnern ist allein 2015 um 0,7 Prozent gestiegen und lag bei 16 Prozent. Hauptursache dafür ist die Ausweitung des Niedriglohnsektors.

Die Lücken in der öffentlichen Daseinsvorsorge in einigen Regionen, Bundesländern und Kommunen sind dramatisch. Der Investitionsstau in den Kommunen beträgt weit über 100 Milliarden Euro. Städte und Gemeinden in Ost und West brauchen mehr Mittel, um in ihre öffentliche Infrastruktur investieren zu können.

Gerechtigkeit für die Menschen in Ostdeutschland

Auch im dritten Jahrzehnt nach der deutschen Einheit sind die Menschen in Ostdeutschland in vielen Bereichen nicht gleichgestellt: Der Rentenwert und die Standardrente sind niedriger, die Löhne und Gehälter sind durchschnittlich niedriger, die Wirtschaftsleistung liegt immer noch über ein Viertel unter der der westlichen Bundesländer.

So unterschiedlich die persönlichen Erfahrungen vor und nach 1989 waren und sind, und  so vielfältig deren Bewertungen ausfallen – es bleibt, dass die Wirklichkeit in den ostdeutschen Ländern weit hinter dem zurückbleibt, was in der Wendezeit versprochen und erwartet wurde. Die Art und Weise der Vereinigung hat die Lebensperspektiven von vielen Menschen beschnitten. Und neue strukturelle Probleme sind entstanden. Auch hoher Leistungswille aller Generationen im Osten, auch ausgeprägte Bereitschaft zum Verzicht sowie große Investitionen und eine weithin moderne Infrastruktur haben es nicht vermocht, die kulturelle Demütigung und die soziale Benachteiligung vieler Ostdeutscher sowie den ökonomischen Zusammenbruch des Wirtschaftsraumes der ehemals sozialistischen Länder nach 1989/90 zu kompensieren. Zwei verfehlte Politikansätze sind dafür verantwortlich: 1. Immer noch leiden die ostdeutschen Bundesländer unter der falschen Treuhand-Politik, die auf Deindustrialisierung gesetzt oder sie bewusst in Kauf genommen hat. Der Widerstand gegen diese Politik – etwa der Hungerstreik in Bischofferode – gegen die politische Ausschaltung unliebsamer Konkurrenz durch die Treuhand und andere politische Sachverwalter im Interesse westdeutscher Konzerne wurde ausgesessen und im Westen kaum wahrgenommen. Gleiches gilt für Protest und Empörung über Investoren, die den Ausverkauf der industriellen Struktur und öffentlichen Eigentums nach 1989 für kriminelle Machenschaften nutzten. Positive wirtschaftliche Elemente aus der DDR wurden nicht aufgegriffen. 2. Die Formen der Investitionen folgten neoliberalen Vorstellungen von Wirtschaftsförderung: Niedriglohn für die Beschäftigten und Steuervorteile für die Unternehmen. Die soziale Infrastruktur, die öffentliche Daseinsvorsorge wurden vielerorts aufs Allernötigste gekürzt oder privatisiert. Die Folgen neoliberaler Politik der vergangenen 25 Jahren zeigen sich in Ostdeutschland wie unter einem Brennglas. Sie verbinden sich mit sozialen Benachteiligungen und kulturellen Demütigungen der Menschen in Ostdeutschland. Nur 2,8 Prozent aller Entscheidungsträger in Deutschland stammen aus Ostdeutschland. In den neuen Bundesländern selbst sind nur etwa 20 Prozent der Führungskräfte aus dem Osten.

Der Osten bleibt die größte Ansammlung von strukturschwachen Regionen bundesweit. Ostdeutschland ist zwar nicht durchgängig eine wirtschaftlich abgehängte Region. Gerade in den größeren Städten überwiegen Zukunftschancen und gute Entwicklung. Doch auch die vergleichsweise erfolgreichen Teilräume können mit den Leistungszentren im Westen nicht mithalten.

Das Versprechen aller Bundesregierungen seit der Vereinigung, gleichwertige Lebensverhältnisse in Ost und West zu schaffen, ist gebrochen worden. Die beschlossene »Rentenanpassung« setzt das nur fort: Sie sieht vor, dass eine Gleichbehandlung erst 2025 erreicht ist. 35 Jahre nach der Vereinigung! Wir wollen eine vollständige Angleichung der Renten als Sofortmaßnahme. Noch immer gibt es im Osten weniger Rente für dieselbe Lebensleistung. Die Löhne und Gehälter sind niedriger, die Armutsquote ist höher, und es sind mehr Menschen erwerbslos. Ostdeutsche haben weniger Vermögen, die Tarifbindung und die Gewerkschaften sind schwächer. Kein Wunder, dass 65 Prozent der Ostdeutschen der Meinung sind, die Bundesregierung tue zu wenig, um die Lebensverhältnisse in Ost und West anzugleichen. Diese Hinhaltepolitik, die fehlende Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen sowie die Tatsache, dass ostdeutsche Interessen häufig keine Lobby im Bund haben, führen dazu, dass viele Menschen in Ostdeutschland nach wie vor nicht das Gefühl haben, gleichwertig behandelt zu werden.

Wir haben eine besondere Verantwortung im Umgang mit diesen sozialen wie regionalen Ungleichheiten und Umbrüchen. Wir kämpfen für soziale Gerechtigkeit und gleichwertige Lebensverhältnisse. Wir verstehen uns im Unterschied zu allen anderen im Bundestag vertretenen Parteien als Vertreterin der Interessen der Menschen in Ostdeutschland. Das bleiben wir auch in Zukunft.

Aus den Erfahrungen in Ostdeutschland lässt sich lernen: Die Probleme von deindustrialisierten Regionen lassen sich gerade nicht durch Niedriglohn-Politik, durch Lohnverzicht oder durch die Schaffung von Sündenböcken lösen. Die Menschen brauchen eine engagierte, aktive Politik für gleichwertige Lebensverhältnisse. Dazu gehören auch die Fortführung und Stärkung positiver Aspekte der Erfahrungsumbrüche aus den letzten Jahrzehnten. Es gilt, die eigenverantwortlichen Erfolge in der Erhaltung und im Ausbau bewährter sozialer Strukturen und Kompetenzen vor Ort zu nutzen, um in Ostdeutschland Perspektiven für gewachsene Lebensqualität aufzuzeigen.

Treuhandpolitik, Privatisierungen und die Goldgräberstimmung krimineller Investoren in den 1990er brauchen Aufarbeitung. Wir sehen ein massenhaftes Politikversagen auf allen Ebenen. DIE LINKE wird sich daher in der nächsten Legislaturperiode des Deutschen Bundestages für eine Enquetekommission einsetzen, die diese tiefen Einschnitte im Leben Millionen Ostdeutscher aufarbeitet und damaligen Politikansätze und Institutionen wie die Treuhand überprüft. Wir werden endlich mit den Benachteiligungen für Ostdeutsche Schluss machen:

Wir fordern gleiche Rente für gleiche Lebensleistung! Noch immer erhalten Rentnerinnen und Rentner in Ost und West keine gleichwertige Rente. Die Große Koalition will die Ostdeutschen nun mit ihren Rentenplänen bis 2025 hinhalten. Wer 1990 in Rente gegangen ist, müsste dann 100 Jahre alt werden, um noch die Renteneinheit zu erleben. Gleichzeitig plant die Große Koalition, die Umrechnung der niedrigeren ostdeutschen Löhne abzuschaffen, was zu erheblichen Rentenkürzungen für die heute in Ostdeutschland Beschäftigten führen würde.
DIE LINKE will die Benachteiligung ostdeutscher Rentnerinnen und Rentner endlich beenden. Daher muss der Rentenwert Ost sofort steuerfinanziert an das Westniveau angeglichen werden. Solange es noch starke Lohnunterschiede zwischen Ost und West gibt, muss die Umrechnung erhalten bleiben. Die Angleichung der Ostrenten darf nicht zum Nachteil der heutigen Beschäftigten führen. Für Zeiten des Niedriglohns wollen wir generell für alle Beschäftigten in Ost wie West eine Hochwertung in der Rente einführen und darum wollen wir die Rente nach Mindestentgeltpunkten entfristen und verbessern (vgl. Kapitel II »Gute Renten«).
Bei der Überführung der Alterssicherungssysteme der DDR in bundesdeutsches Recht wurden Rentenansprüche für verschiedene Gruppen, zum Beispiel Krankenschwestern, Beschäftigte der Braunkohleveredelung und in der DDR Geschiedene unzureichend anerkannt. Hunderttausende Ostdeutsche und 17 Berufsgruppen sind davon nach wie vor betroffen. Dabei geht es nicht nur um empfindliche finanzielle Einbußen bei der Rente, es geht auch um das Gefühl, dass die eigene Leistung weniger wertgeschätzt wird, nur weil man im Osten des Landes gelebt und gewirkt hat. Wir sagen hingegen: Die Lebensleistungen im Osten müssen anerkannt werden!
Neoliberale Arbeitsmarktpolitik ist überall und insbesondere im Osten gescheitert: Wir wollen gute Arbeit statt prekärer Jobs. Den Niedriglohnsektor wollen wir mit einem gesetzlichen Mindestlohn von zwölf Euro trockenlegen. Tarifflucht durch Werkverträge und Leiharbeit muss unterbunden werden. Die ausufernden Befristungen wollen wir zurückdrängen und auf wenige Sachgründe beschränken. DIE LINKE steht für den Grundsatz »Gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit!« – in Ost und West.
Die Treuhand hat in Ostdeutschland ein weitgehend deindustrialisiertes Land zurückgelassen. Wir brauchen Investitionen und regionale Entwicklungspläne für gute Arbeit und sozial und ökologisch nachhaltige Produktion. Daher fordern wir ein Investitionsprogramm für eine nachhaltige Landwirtschaft. Wir wollen den Genossenschaftsgedanken als solidarisches Wirtschaftsmodell stärken. Dazu gehören für uns auch Agrargenossenschaften als wichtiges soziales Bindeglied zwischen einer nachhaltigen Landwirtschaft und den Dörfern.
Die ostdeutschen Wohnungsbauunternehmen werden von ihren Altschulden befreit und die freien finanziellen Mittel im Interesse der Mieterinnen und Mieter und der öffentlichen Unternehmen eingesetzt.
Wir wollen besonders innovative Industrien und Forschungen im Osten fördern, um neue Entwicklungswege gehen zu können.
Beim Wandel von Lebens- und Arbeitswelt sowie gesellschaftlichen Werten haben Ostdeutsche besondere Erfahrungen gemacht. Bis heute entfalten auch Erfahrungen aus der Zeit vor der »Wende« ihre Wirkung: Viele Frauen empfinden es als selbstverständlich, sich nicht zwischen Kindern und Beruf entscheiden zu müssen. Egalitäre Rollenvorstellungen in Familien sind weiterhin verbreitet. Wer soziale Absicherung erfahren hat, ist weniger bereit, alle Lebensbereiche Konkurrenz und Wettbewerb zu unterstellen. Diese Haltungen müssen auch aus ökonomischer und ökologischer Sicht wieder stärker ins Blickfeld gerückt werden. Hinzu kommen positive Erfahrungen und Modelle wie Polikliniken und Agrar- sowie andere Genossenschaften als Formen solidarischer Ökonomie. Diese unterschiedlichen Erfahrungen und progressiven ostdeutschen Lebensmodelle müssen auch in der Bundespolitik als wichtige Impulse für die Zukunft anerkannt werden. Sie sind wertvolle Alternativen zu sozialer Kälte und einer Dominanz von Profit und Wettbewerb in immer mehr Lebensbereichen.

Die Regionen stärken: Gleichwertige Lebensverhältnisse

DIE LINKE kämpft für die Verwirklichung der im Grundgesetz verankerten Gleichheit der Lebenschancen: Weder die soziale noch die regionale Herkunft von Menschen darf ein Hindernis bei der Wahrnehmung von Lebenschancen und der Gewährleistung von Lebensqualität sein. Auch zwischen nord- und süddeutschen Regionen, zwischen Regionen der Deindustrialisierung und der industriellen Zentren gibt es ein Gefälle der Einkommen wie zwischen Ost und West. Zerfallende Infrastruktur, hohe Erwerbslosigkeit und wachsende Armut führen etwa im Ruhrgebiet und in anderen benachteiligten Regionen für viele Menschen zu Perspektivlosigkeit.

Die Erfahrungen vieler Beschäftigter in Ostdeutschland belegen: Als Billiglohn-Regionen hatten und haben weder die ostdeutschen Länder noch die strukturschwachen Regionen im Westen eine Chance - das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Erfahrungen aus Ostdeutschland zeigen, dass Wirtschaftsförderung, die eine Billiglohn-Strategie bedient, langfristig Abhängigkeiten schafft. Das ostdeutsche Wirtschaftsprofil als Zulieferer westdeutscher Konzerne hat die ungleiche Entwicklung dieser Region in der Wirtschafts- und Steuerkraft sowie in der Entwicklung der Einkommen der

Beschäftigten seit 1989/90 zementiert. Wir setzen der Strategie von Kürzungen und Niedriglohn eine aktive regionale Wirtschaftsförderung und Strukturpolitik entgegen, die gute Arbeit an erste Stelle setzt und zukunftsfähige Forschungs- und Industrieentwicklung mit dem ökologischen Umbau von Wirtschaft und Infrastruktur verbindet. Ein wichtiger Ansatzpunkt für diesen Prozess ist die Stärkung von regionalen Wertschöpfungsketten, bei denen kleine und mittlere Unternehmen im Fokus stehen müssen. Statt nur verlängerte Werkbank großer Konzerne zu sein, müssen diese Unternehmen bei Forschung und Entwicklung gezielt gefördert werden. Um die industriellen und handwerkliche Kerne im ländlichen Raum zu sichern, bedarf es Begleitung bei Unternehmensnachfolgen, dabei ist der Firmenübergang in die Hand der Beschäftigten als Produktivgenossenschaften zu unterstützen (vgl. Kapitel XIV »Menschen und Natur vor Profite«).

Gerade in Kleinunternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten verwischen im Arbeitsprozess die Unterschiede zwischen Unternehmer und Beschäftigten. Auch hier geht es darum, Tarifbindung und Bedingungen guter Arbeit zu verankern, etwa durch eine veränderte Vergabepolitik der öffentlichen Hand. Nur so können Fachkräfte in ländlichen Räumen und strukturschwachen Regionen gehalten werden. Dazu gehören auch existenzsichernde Mindestlöhne. Leiharbeit und Werkverträge passen nicht in das Modell einer zukunftsorientierten Regional- und Strukturpolitik. Mit den Gewerkschaften, den Kammern und Wirtschaftsverbänden beraten wir kontinuierlich über geeignete Maßnahmen, um das Unterlaufen von Arbeitsrecht und Tarifverträgen zu unterbinden, Leiharbeit und Werkverträge zurückzudrängen. Und streiten gemeinsam mit den Gewerkschaften dafür, sie umzusetzen.

Für die Entwicklung der Regionen brauchen wir dringend die Einnahmen aus einer Vermögensteuer, deren Aufkommen durch einen solidarischen Länderfinanzausgleich auf alle Bundesländer verteilt wird: Wir wollen Reichtum besteuern, damit mehr Geld vor Ort da ist. Nur durch gut bezahlte Arbeit, eine sanktionsfreie Mindestsicherung und eine zukunftsfähige Wirtschaft, die mehr als bloß eine verlängerte Werkbank ist, lässt sich Armut dauerhaft bekämpfen.

Wir wollen eine umfassende Gemeindefinanzreform, in der u.a. die Gewerbesteuer zu einer Gemeindewirtschaftsteuer umgewandelt wird.
Wir wollen einen Solidarpakt III für strukturschwache Regionen in Ost und West einführen.
Im Zuge des sozial-ökologischen Umbaus wollen wir die Gemeinschaftsaufgabe »Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur« als wichtiges Instrument der Wirtschaftsförderung sichern.
In Wissenschaft und Forschung muss umfangreicher investiert werden, um Innovationen und die Hochschulen besonders in Ostdeutschland zu stärken.
Wir setzen uns dafür ein, dass die Stadtumbauprogramme Ost und West zu einem Programm für strukturschwache Regionen umgearbeitet werden, ohne die derzeitigen finanziellen Mittel für den Osten zu verringern. Städte und Gemeinden müssen in die Lage versetzt werden, die Herausforderungen der demographischen Entwicklung, des energetischen Umbaus, der Konversion und des sozialen Zusammenhalts zu bewältigen.